Auf der Suche nach einer neuen Lebensmelodie
„Und nichts ist mehr selbstverständlich“ oder “Wenn Du morgens aufwachst und es tut nichts weh, bist du tot.“
Da liege ich mit meinen 65 Jahren auf der Liege bei meinem Osteopathen und bekomme gesagt, dass ich mir meine Beweglichkeit durch geeignete Aktivitäten erhalten muss. Früher bin gejoggt, weil mir das Laufen Spaß gemacht hat: alleine mit mir und meinen Gedanken, mal weit, mal Berg auf, die körperlichen Grenzen austestend oder auch nur meine Kondition bestätigend, die Düfte des Waldes einatmend und die Luft spürend. Und jetzt erfahre ich, dass ich das, was ich gerne gemacht habe, künftig zur Gesundheitsprophylaxe tun soll. Aua!
Mein Freund, der dieses Jahr 80 Jahre alt wird, legt mir dringend nahe, aktiv zu bleiben, denn: „wer rastet, der rostet.“ Ihm begegne ich mit allergrößtem Respekt, wenn ich mir sein unermüdliches soziales Engagement anschaue. Auch beruflich ist er nicht abstinent. Und in politischen Diskussionen oder auch Gesprächen über Kunst und Musik zeigt er sich hoch interessiert und kenntnisreich. Doch leider macht ihm sein Körper immer mal wieder einen Strich durch die Rechnung. Dieser konfrontiert ihn mit Leistungseinschränkungen, über die er sich immer weniger leicht hinwegsetzen kann. Und doch bleibt er unermüdlich.
Die Lebensthemen verändern sich mit dem älter werden, wie mir meine Patienten, die schon weit über 70 Jahre alt sind, erkennbar machen. Mit Wegfall beruflicher Aktivitäten und der damit verbundenen Reputation gilt es, eine neue Lebensbalance zu finden. Die vier Grundbedürfnisse nach Grawe behalten nämlich auch in diesem Lebensabschnitt ihre Bedeutung. Der Mensch konnte im Berufsalltag mit seinen festgeschriebenen Strukturen, Abläufen und Anforderungen das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung meist sicher befriedigen. Es erwuchs eine Identifikation mit dem Beruf, die zu einem substantiellen Bestandteil der Persönlichkeit und des Selbstverständnisses des Menschen wurde. Das Erleben körperlicher Grenzen blieb für viele eher etwas für die anderen. Doch nun stellt sich mit einem Mal die Frage, wann es einen unmittelbar selbst erwischt. Zu erleben, wie nahestehende Menschen um einem herum schwer erkranken und auch sterben verändert die Sicht auf das eigene Leben total. Das Leben wird erlebnisnäher. Die inneren Haltungen stehen plötzlich zur Disposition. Konnte man früher als Folge seiner Führungsverantwortung in Fragen von Sicherheit, Ehrlichkeit und Verbindlichkeit die Haltung einnehmen, dass das gemeinsame Handeln Zielvorgaben gerecht werden musste und sich danach ausrichtete, ist die intrinsische Motivation beim Menschen nach der Arbeitsphase viel stärker gefordert. Diese äußeren Struktur und Inhalt gebenden Sachbezüge fehlen. Es gibt keine Zielsetzungen mehr, die berufsbedingt von vielen gemeinsam verfolgt werden, sondern eigene müssen definiert werden, die zu verfolgen erst einmal jedermanns eigene Sache ist. Im nächsten Schritt finden sich oftmals neue Gruppen gleich Interessierter zusammen. Projekte werden mehr unter dem Blickwinkel betrachtet, ob sie auch noch von einem selbst fertiggestellt werden können. Im Beruf konnte man davon ausgehen, dass andere weiterführen, was von einem selbst begonnen worden war.
Der Rhythmus des Alltags, der Lebensrhythmus ist aus den Fugen geraten, womit viel Kontrolle verloren gegangen ist. Und gerade darin liegt auch eine Chance. Als ich erstmals „what a wonderfull world“ als Reggae gehört habe, war ich ganz begeistert. Derselbe mir wohlbekannte Text mit einem für mich ganz neuen Rhythmus, einer neuen Melodie klang fantastisch in meinen Ohren. Die Herausforderung des Älterwerdens liegt im Suchen nach einem neuen Rhythmus und einer neuen Melodie seines eigenen Lebensskriptes.
Seinen Selbstwert abzusichern und zu erhöhen gelingt in diesem Lebensabschnitt völlig anders als im Berufsleben. Plötzlich rücken die Familie und Freunde in ein neues Licht, gewinnen an Bedeutung, möchte man doch gerne in seinen erworbenen Kompetenzen auch weiterhin gefragt sein. So mancher findet den Weg zu verstärktem sozialen Engagement. Oder er besucht noch einmal die Hochschule und beginnt ein Seniorenstudium. Die Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse ändert sich, das Streben danach lange Zeit nicht. Früher tat es der bewundernde Blick von Passanten und Passantinnen, wenn man sein Motorrad aufheulen ließ und einen sog. Kavaliersstart hinlegte. Jetzt ist es den eigenen Verhältnissen angepasst vielleicht ein eher luxuriöses Auto, oder ein wertvolles Schmuckstück, das man sich erst jetzt leisten kann.
Auch über siebzig Jährige haben ein Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Doch genügen oft Zärtlichkeiten, die Vertrautheit des Körpers des anderen, das an sich Drücken. Der Wunsch nach Sexualität, nach Erleben von Potenz, von Spüren exklusiver Nähe, von sich vereinigen Wollen verliert erst langsam an Intensität. Sexappeal und Erotik, die in unserer Gesellschaft so dominant nach vorne gedrängt werden, werden sanfter, weicher, weniger drängend erlebt. Sexuelle Abenteuer außerhalb der Ehe werden eher selten gesucht, dafür durchaus Partner und Partnerinnen, mit denen man einen intimen Dialog führen kann, denen man sich in all seinem Empfinden und inneren Erleben anvertrauen kann. Das Brunftverhalten, unbedingt auffallen und gefallen zu wollen, tritt in den Hintergrund zu Gunsten eines eher vernunftgesteuerten Verhaltens, wie auch schon Goethe im Alter es beschrieb.
Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung und Vermeiden von Unlust wird infolge großer zeitlicher Reserven und meist reduzierter finanzieller Ressourcen anders als früher befriedigt. Große Reisen stehen bei vielen auf dem Plan. Man leistet sich etwas. Es ist nicht mehr das Ziel, berufliche Erfolge zu erzielen. Das unbedingte gewinnen wollen, Überlegenheit spüren wollen, die Olympiade mit weiter, höher, besser gewinnen müssen tritt in den Hintergrund. Das Erleben von miteinander etwas tun, das sich gemeinsam freuen, unangenehme Anstrengungen vermeiden, alles ruhiger angehen, nicht mehr unbedingt alles gesehen haben müssen, wenn man auf Reisen ist, sondern auch eher einmal verweilen, nimmt mehr Rücksicht auf das eigene Phlegma. Die Menschen wirken weniger abgehetzt, es gelingt ihnen leichter, einmal Pause zu machen. Kulturelle Interessen können mit großer Lust intensiver verfolgt werden, Abstecher zu entgegnen schönen Plätzen und wunderbar angelegten Gärten sind möglich. Das berufsbedingt notwendige Lesen von Fachliteratur, das oftmals als unangenehme Pflicht erlebt wurde, weicht dem sich vertiefen wollen in Literatur zu Themen, die im Leben zu kurz gekommen sind. Sich mit Freunden unter der Woche zu treffen, gemeinsam etwas zu unternehmen und auch einmal für mehrere Tage unterwegs sein wird möglich. Das Spielen mit den Enkelkindern sowie Anteilnehmen an ihrem Aufwachsen, ihrer Lebendigkeit und Neugierde auf das Leben, ihre Begeisterung für alles Neue, ihr die Welt sich zu Eigen machen und neue Fertigkeiten lernen bringt Schwung in das eigene Leben. Den Enkeln vorlesen, mit ihnen spielen, shoppen gehen, auf Entdeckungsreise gehen kann ohne Zeitdruck genossen werden. Mann und Frau können zu neuer Innigkeit finden, wenn sie die Gelegenheit nutzen, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich ihre Wünsche mitzuteilen und gemeinsame Ziele zu definieren und anzustreben. Diese werden nicht mehr von beruflichen Zwängen eingeschränkt. So kann es gelingen, auch einmal ehemals Erstrebenswertes loszulassen, zu verzichten in der Gewissheit, dass man insgesamt genug hat.
Hobbies wie schreiben, malen, töpfern, musizieren, gärtnern, wandern, skulpturieren können mit mehr Zeit und Lust befriedigt werden.
Bindung und Beziehung sind völlig neu zu gestalten. Das berufliche Umfeld mit all seinen Pflichten und Arbeitsrhythmen garantierte zuvor Zugehörigkeit, Zusammenhalt, Teamgeist durch gemeinsame Zielsetzungen. Durch Arbeitszeiten festgelegte regelmäßige Begegnungen traf man sich mehr oder weniger täglich. Man hatte in den Aufgaben Gemeinsamkeiten. Man brauchte sich keine eigenen Anlässe zu suchen, nur um sich zu treffen. Das ändert sich durch die Zeit nach dem Beruf. Was künftig zusammenführt muss neu gefunden werden. Es werden aktive Absprachen notwendig. Diese verbindlich einzuhalten, sie ernst zu nehmen muss so mancher erst noch lernen.
Die Familie und die Freunde ebenfalls ein hohes Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, nach Miteinander haben. Jetzt rücken sie mehr in den Fokus. Es fällt leichter, Absprachen zu treffen, sich unter der Woche zu begegnen, miteinander etwas zu unternehmen, Zeit zu verbringen. Doch auch sich abzugrenzen, Nähe und Distanz neu zu regulieren werden zu einer Herausforderung.
Intimität zwischen Mann und Frau erfährt eine Neudefinierung. Wieviel Gemeinsamkeit sich jeder mit dem anderen wünscht, wieviel Eigenständigkeit sich der einzelne wünscht, wie viele Begegnungen mit Freunden für jeden einzelnen und für beide gemeinsam unter der Prämisse der großen Zeitressourcen fördern die Beziehungen zueinander? Hier kann sich leicht Spannung aufbauen, wenn der eine mehr alleine für sich sein möchte, der andere sich eher mehr Gemeinsamkeit wünscht. Insbesondere, wenn beide unterschiedliche berufsbedingt Lebensrhythmen, ggfs. mit viel Zeiten der Trennung voneinander hinter sich haben, kann der eine daraus gelernt haben, alleine vieles für sich befriedigend gestalten zu können, während der andere auf ihn gewartet hat und enttäuscht reagiert, wenn das Bedürfnis nach einem Miteinander unterschiedlich intensiv ist und sein eigenes nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Der Wechsel in den neuen Lebensabschnitt bedeutet immer eine Krise. Diese bietet große Chancen, die jedoch genutzt werden müssen, mit denen man sich bewusst gemeinsam mit der Familie und den Freunden auseinandersetzen sollte. Vieles wird möglich, doch vieles gilt es auch loszulassen und zu verabschieden. Die Verantwortlichkeiten verändern sich: gegenüber der Frau oder dem Mann, den eigenen Kinder und deren Familien, gegenüber den Eltern und weiteren Familienangehörigen, gegenüber Freunden.
Eine ausgeglichene Befriedigung aller vier unverzichtbaren Bedürfnisse ist dabei anzustreben. Seine neue Lebensmelodie gefunden zu haben erfüllt mit tiefer innerer Befriedigung und Glück. Hieraus kann die Kraft erwachsen, in Zeiten von Abschied nehmen müssen, von Krankheit und Leid nicht in die Knie zu gehen, gefasst zu bleiben, zur Seite stehen zu können und zuzulassen, dass jemand zur Seite steht. Denn es geht an niemandem vorüber, erfahren zu müssen, wie nahestehende Angehörige und Freunde wie auch man selbst krank werden und sterben. Dem Schicksal entrinnt niemand.
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