Krank werden

Unzufriedenheit, die uns Krank werden lässt.

Unser Schamgefühl fungiert wie ein Wächter, der uns davor bewahrt bzw. aufpasst, dass wir unsere Würde nicht verletzen. Unsere Würde setzt sich aus unserem Bindungs- und Autonomiebedürfnis zusammen. Wird eines oder werden beide verletzt, spüren wir Scham. Dies kann uns motivieren, alles Geeignete zu unternehmen, Autonomie und Selbstbestimmung wiederherzustellen bzw. unser Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit zu befriedigen. 

Patientengeschichte*

Eine 59jährige Lehrerin erkrankt an multiplen körperlichen Beschwerden in einem Ausmaß, dass eine klinische Behandlung unumgänglich wird. Alle allgemein- und fachmedizinischen körperlichen Diagnostiken waren ohne ausreichende Erklärung geblieben. Sie ist seit drei Jahrzehnten psychisch nach eigenem Erleben hoch belastet und hatte sich auch schon einmal ambulant psychotherapeutisch behandeln lassen. Danach war es längere Zeit erträglicher gewesen. Die Patientin hat als erste in ihrer Familie studiert und war stets dem an sie gestellten und von ihr innerlich übernommenen Anspruch gerecht geworden. Bald nach ihrem Abitur war die Mutter schwer erkrankt, und sie unterstützte sie, wo sie nur konnte. 
Eigene Bedürfnisse hatte die Lehrerin stets zurückgestellt. Viel lieber hätte sie Kunst studiert, was jedoch „kein richtiger Beruf“ gewesen wäre. Stets spürte sie das Gefühl, etwas nicht ausgelebt zu haben, dass eigene Bedürfnisse nicht zum Zuge gekommen sind, sie zum kurz gekommen ist. Jetzt ist ihre Tochter 26 Jahre alt, lebt in einer anderen Stadt und kommt gut allein zurecht. 

Wie unser Gehirn arbeitet 

„Unser Gehirn … (verbraucht) bereits im Ruhezustand, wenn wir also gar nichts tun und auch nichts denken, für die dann dort noch ablaufenden Prozesse bereits 20% der vom Körper insgesamt bereitgestellten Energiemenge…“1. D.h., dass die negative Energie, die mit der Unzufriedenheit für die Patientin verbunden ist, hat ihr zunehmend die Kraft geraubt und krank werden lassen. 

Wahre Energiefresser sind starke Affekte wie tiefe Trauer, zerfressender Neid, bohrender Hass, tödliche Rache oder unüberbrückbare Konflikte, existentielle Sorgen und Nöte. Das Gehirn arbeitet am liebsten innerhalb vertrauter, zuvor angeeigneter, für gut befundenen und bewährten, daher energiesparend zur Verfügung stehender Denkstrukturen und Muster. Wieviel seelische Not musste beispielsweise ein alter Mensch im Sterben erleiden, wenn er ohne familiären Beistand im Altenheim oder allein im Isolierzimmer auf der Corona-Station sterben muss? Angehörige, die um das Heimweh der Kinder, das Schutz- und Anlehnungsbedürfnis ihrer kranken Eltern wissen, litten große Qualen, weil sie ihrem ihnen vertrauten inneren Impuls, Beistand zu leisten, nicht konnte. Alle litten sie an vermehrtem psychophysischem Energieverbrauch in dieser Zeit, an frühzeitiger Erschöpfung und Verlust von Lebensfreude. 

Schamgefühle erkennen, zulassen und als Motor für positives Handeln nutzen 

„… durch Verdrängung, Ablenkung, Abspaltung, durch Weghören und Wegschauen, durch Abschalten, Verleugnen …“2 haben wir die Möglichkeit, zur Selbstberuhigung unseren Energieverbrauch zu drosseln. Jedoch erfordern die Abwehrmechanismen Energien. Solange ein Kompromiss erträglich ist, bleibt dieser Energieaufwand begrenzt. Ändern sich jedoch Lebensbedingungen, wird die Beibehaltung des Kompromisses nicht mehr sinnvoll sein und immer mehr energetischen Aufwand abverlangen. 

Es wäre der Patientin innerlich unmöglich gewesen, ihrer Mutter damals nicht zur Seite zu stehen, als sie schwer erkrankte. Sie hätte sich zutiefst vor sich selbst geschämt. Es hatte für sie nie in Frage gestanden, für sie da zu sein. Sie war Lehrerin geworden, um Beruf und ihrem Wunsch, eine gute Mutter sein zu können, vereinbaren zu können. Doch nun stand die Tochter auf eigenen Füßen. Wie kann die Patientin unter den jetzigen veränderten Lebensbedingungen mehr an sich denken? Weniger sich an den Bedürfnissen anderer orientieren? Autonomie und Zugehörigkeit in eine neue Balance bringen? Die Akzeptanz im Rückblick, einen guten Job gemacht und die Tochter gut auf das Leben vorbereitet zu haben, eine beständige Ehe zu führen und sich sozial gut abgesichert zu haben, aussprechen – darüber Stolz zu empfinden und sich zu loben, ist hierfür ein wichtiger erster Schritt.  

Weiterführende systemische Fragen zur Selbstreflexion 

Die in der Beziehung zur Mutter und im in ihrem Gehirn angelegten Verschaltungsmuster wurden durch den familiären Umbruch reaktiviert. Wie kann es gelingen, dass sie neue Beziehungserfahrungen macht, die sie zufriedenstellen und weniger in die Pflicht nehmen? Wie kann sie, ohne sich dessen zu schämen, ihre Enttäuschung zulassen, dass ihre Tochter sich nicht um sie kümmert, wie sie es ihrer Mutter gegenüber getan hatte? Dafür müsste sich die Patientin zunächst darüber klar werden, sich diesen Wunsch nicht als ungehörig zu verbieten. Wie die im Alltag erlebte Verbundenheit neu erleben, z.B. mit Freundinnen? Wie kann sie die Beziehung zu ihrem Ehemann neu beleben, mit erfüllenden Inhalten weiterentwickeln? Wie kann sie dich, ohne Scham, aus der Verantwortung für das Wohlergehen der Familie zurücknehmen und sich gestatten, nicht mehr volle Leistung zu bringen, um mehr Energie für ihre Belange übrig zu haben?  

Wenn es ihr gelingt, ihre innere Balance wieder herzustellen, wird sie wieder zu Kräften kommen und es wird weniger Energie verloren gehen, zum Aufrechterhalten einer heute als unerträglich erlebten Kompromisslösung.   

*Bei den genannten Themen handelt sich um konstruierte Fallgeschichten.

[1] Hüther G: Würde – Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. München Pantheon-Verlag 7. Auflage 2019 S.94
[2] Hüther G: ebd S. 95

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Veröffentlicht am: 24. August 2022

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