Zur Überwindung eines Traumas

Sich wieder lieben lernen – Zur Überwindung eines Traumas

Schwere folgenreiche Traumata zu überwinden und seinem Leben eine komplett neue Orientierung zu begeben erfordert enorme Anstrengungen. Diese zu unternehmen, bedeutet eine große Herausforderung und ist für Betroffene und ihre Helfer höchst sinnstiftend.

„Scham zeigt … eine Spannung zwischen dem Ich und Ideal an – im Gegensatz zur Schuld, die eine Spannung zwischen dem Ich und Über-Ich bezeichnet. Schuldgefühle beziehen sich auf die Verletzung des anderen, Schamgefühle auf die Verletzung des Selbst.“[1] Verletzte Scham trifft uns in unserer Würde.

Eine 32-jährige Computerfachfrau hatte in mit Hilfe künstlicher Intelligenz gesteuerte Kommunikation und Medientechnik promoviert und stand in den Startlöchern, ins Management eines mittelständischen Unternehmens einzusteigen. Dort hatte sie schon als Studentin während verschiedener Praktika einen positiven Eindruck hinterlassen. Ihr Privatleben hatte sie zurückgestellt, wollte dies jedoch mehr in den Vordergrund rücken, sobald sie beruflich Fuß gefasst hätte. Ihr Freund, 38 Jahre, wollte nicht mehr allzu lange warten, mit ihr eine Familie zu gründen.
Bei einer Fahrt mit dem Fahrrad zur Arbeit erlitt sie einen folgenschweren Unfall. Sie war ohne Helm unterwegs und wurde von einem vorbeifahrenden Auto touchiert, stürzt und schlug mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl. Sie zog sich schwere Verletzungen im Gesicht und insbesondere auch im Frontalhirnbereich sowie seitlich am Kopf zu. Trotz intensiver Bemühungen und Therapien, sowohl hirnchirurgisch, neuropsychologisch, neurorehabilitativ, später auch psychosomatisch tagesklinisch verlor sie dauerhaft ihre Belastbarkeit im Bereich der Denkleistung, konnte sich nur noch für kurze Zeitspannen von ein bis zwei Stunden pro Tag anstrengen. Sie verlor ihren Job, und zuletzt wurde sie auf Lebenszeit berentet. Wegen einer Persönlichkeitsänderung nach dem Kopftrauma mit Verlust von Lebensfreude, Initiativlosigkeit und Stimmungslabilität wurde sie nach juristischen Auseinandersetzungen erneut tagesklinisch behandelt.

Die Lebensperspektive hat sich für die junge Frau mit einem Schlag vollständig verändert. Ihre berufliche Karriere kann sie nicht fortsetzen, ihr Lebensgefährte hat sich nach längerer Zeit, während sie noch nach dem Unfall zusammengelebt hatten, getrennt. Eigentlich wäre sie finanziell durch entsprechende Versicherungen gut abgesichert, jedoch weigert sich die gegnerische Haftpflichtversicherung, den nachweisbaren Verdienstausfall zu begleichen und sie führte insgesamt sieben Jahre einen Prozess nach dem anderen. Viele Male hatte sie sich gutachterlich untersuchen lassen müssen mit zum Teil sehr oberflächlicher Durchführung und Verharmlosungen ihrer schweren Residualsymptomatik. Die Vielzahl der Prozesse erlebte sie als strukturelles Mobbing, als entwürdigend und beschämend, weil sie sich nicht ernstgenommen fühlte und als Simulantin wahrgenommen sah. Vor erneuten Untersuchungen und Gerichtsprozessen wurde sie affektlabil, in ambulanten psychotherapeutischen Gesprächen verbalisierte sie wüste Drohungen gegen Rechtsanwälte und war latent suizidgefährdet. Sozial hatte sie sich stark zurückgezogen.

Mit hohem Leistungswillen und Einsatz hatte die Patientin ihrem Ich-Ideal weitgehend entsprechen können. Sie war zufrieden mit sich, stolz auf das Erreichte und bestrebt, ihre Karriere erfolgreich fortzusetzen. Jetzt sind ihr viele Ressourcen zur Selbstaktualisierung, zum Wachsen und Stärken ihrer Autonomie genommen. Zugleich hat sie viele Möglichkeiten verloren, Zugehörigkeit, Bindung und Beziehung zu gestalten. Ihre Würde ist dadurch auf lange Sicht essenziell gefährdet. Hinzu kommt noch das Schuldgefühl, selbst an der Schwere der Unfallfolgen nicht ganz unschuldig zu sein, weil sie keinen Helm getragen hatte. Sie war ihrem eigenen Anspruch an Selbstschutz und Achtsamkeit nicht gerecht geworden.

Ihr Möglichkeit zu geben, ihre Würde[2] wiederzufinden, wieder gut zu sich zu sein, steht ganz im Vordergrund therapeutischen Bemühens. Den massiv veränderten Möglichkeiten zur Entwicklung einer neuen, ihren heute gerecht werdenden Handlungsoptionen, Autonomie zu entwickeln, gilt es Entfaltungsraum zu geben. Ebenso wichtig ist eine Neudefinition von Beziehungen, die für sie wichtig sind – sowohl alte wie auch neue. In denen sie so, wie es jetzt ist, Akzeptanz, Respekt und Rücksichtnahme, ohne über Gebühr geschont zu werden, erfährt. In denen sie wieder zu mehr Selbstakzeptanz findet.

*Bei den genannten Themen handelt sich um konstruierte Fallgeschichten.

[1] Hilgers M: Scham – Gesichter eines Affekts. Vandenhoek&Ruprecht 4. Auflage 2013 Göttingen S. 19
[2] Hüther G: Würde – Was uns stark macht- als Einzelne und als Gesellschaft. Pantheon Verlag München 7. Auflage

Teilen Sie diesen Beitrag

Veröffentlicht am: 15. September 2022

Wie können wir Ihnen helfen? Telefon 02403 – 78910 oder schreiben Sie uns eine Nachricht.