Lebenssinn – vor und nach der Berentung
Ein damals 59-jähriger Ingenieur, der viele Jahre auf Auslandsmontage Großprojekte geleitet hatte, war zu einem Gespräch mit einem neuen Vorgesetzten gebeten worden. In der Erwartung auf Übertragung eines neuen Projektes hatte er sich hierauf gefreut. Völlig entgeistert war er, als ihm die Frage gestellt wurde, ob er nicht glaube, dass es für ihn langsam an der Zeit sei, auch einmal etwas anderes im Leben zu tun als im Ausland zu arbeiten.
Er hatte sich noch voll in Saft und Kraft gefühlt und hätte gerne noch auf seine Erfahrungen in einem neuen Projekt zurückgegriffen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinerlei Gedanken darüber, wie er die Zeit nach seiner beruflichen Tätigkeit würde füllen können. Diese hatte er noch nicht einmal vor sich hergeschoben, sie waren einfach für ihn noch nicht dran gewesen.
Ihm war daraufhin ein Arbeitszimmer ohne Sekretärin, mit lediglich einem Telefon und eingeschränktem Zugang zu Computerdaten und ohne konkreten Auftrag zugewiesen worden. Dies hatte er fast 14 Monate ertragen, bis er zermürbt nicht mehr zur Arbeit gehen konnte, auf der er völlig kaltgestellt worden war. Er erkrankte an einer schweren Depression mit tiefer Selbstwertkrise.
Aus seinem sozialen Gefüge herausgestoßen hatte der Ingenieur jede innere Orientierung verloren. Sein Selbstwert und sein Selbstvertrauen waren eingebrochen. Er wusste nicht, wie er sowohl sein ehemals im Beruf bestätigtes Bedürfnis nach Autonomie, noch wie er sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigen sollte. Freundschaften hatte er infolge seiner berufsbedingten oft mehrmonatigen Abwesenheiten keine pflegen können, ebenso wenig war er eine dauerhafte feste Beziehung eingegangen und hatte auch keine Kinder. Perspektivlose Einsamkeit zu erleben, hielt er nicht aus. Seine depressive Antriebshemmung hinderte ihn während der schlimmsten Krise an der Umsetzung von Selbsttötungsgedanken.
„Die erst im 20. Jahrhunderts entstanden strenge Trennung zwischen Erwerbs- und Rentenphase ist jedenfalls zu verflüssigen, um die drei Dimensionen Lernen, Arbeit und Muße innerhalb aller Phasen des Erwachsenenseins in ein lebenswertes Gleichgewicht zu bringen. Die ausschließliche Zuordnung von Lernen, Ausbildung und Studium zur Jugend, von Arbeit zum Erwachsensein und von Muße zum Alter ist weder für die Individuen noch für die Gesellschaft erforderlich.“[1]
Alterskunst „sorgt für die angemessene Aktivierung sowohl der körperlichen als auch der geistigen Fähigkeiten als auch der emotionalen und sozialen, was sich in den erwähnten vier L‘s bündelt … in Laufen, Lernen, Lieben und Lachen, die, rechtzeitig begonnen, zu einem beträchtlichen körperlichen, geistigen, sozialen und emotionalen Kapital verhelfen.“[2] Der Beginn des Alterns scheint mit Ende der 50iger Jahren früh angesetzt zu sein. Doch ab Eintritt in den Lebensabschnitt nach Kindheit und Berufsleben, wenn die Existenz nicht mehr durch eigene berufliche Arbeitsleistung abgesichert werden muss, kommt es unweigerlich zu einer mehr oder weniger erschütternden Umbruchphase und größeren Veränderungskrise. Wohl dem Menschen, der gut vorgesorgt hat, der sich körperlich angemessen fit halten konnte und keine Erkrankung seinen Bewegungsspielraum einengen. Der seine Neugierde entdeckt, sich für Neues zu öffnen, z.B. Sprachen lernt, sich mit anderen über neueste Erkenntnisse auf Gebieten, für die er bislang wenig Zeit und Energie investieren konnte, austauscht, vernachlässigte Hobbies intensiver betreibt und evtl. neue entdeckt. Der auf verlässliche Beziehungen zu Freunden und Freundinnen sowie auf einen Partner oder Partnerin, vielleicht sogar eigene Kinder und Kindeskinder, Bezug nehmen kann. Der sich sozial engagiert aus der Erfahrung heraus, dass er dabei viel mehr an innerer Befriedigung zurückbekommt als er an Energie einbringt. Der sich erfreuen kann an den schönen Dingen des Lebens, darum weiß, wie er Highlights setzen kann, auf die er zusteuert, die ihn antreiben.
So leicht sich eine Antwort auf die Frage nach einer geeigneten Strategie der Alterskunst beschreiben lässt, wird nur derjenige sie auch leicht finden, der darauf vorbereitet ist. Jahrzehnte in seinem Denken fremdbestimmt, um berufliche Inhalte gekreist zu haben, keine Selbstreflexion mit Wahrnehmen und nachhaltig abgesichertem Integrieren eigener Bedürfnisse betrieben zu haben, keine enge Verzahnung der vier L‘s zu seinem Lebensinhalt gemacht zu haben, führt gegebenenfalls zu der Notwendigkeit, sich einem professionellen Guide anzuvertrauen. Gelingt es, Vertrauen zueinander aufzubauen, offen zu kommunizieren und auftretende Missverständnisse auszuräumen, sich auch einmal in wilde Fantasien zu versteigen wie mit einem guten Freund oder einer Freundin und gemeinsam über diesen Unsinn zu lachen, kundzutun, wenn man sich nicht verstanden fühlt, auch weinen zu können über erlittene Enttäuschungen und Verluste, kann eine solche therapeutische Begegnung zum Modell werden. Jedoch bleibt die Notwendigkeit zur permanenten Selbstreflexion bestehen. In ihr die Spannung zu erkennen, die Leben ausmacht, ermutigt, sich darauf einzulassen und seinem Leben Sinn zu geben.
*Bei den genannten Themen handelt sich um konstruierte Fallgeschichten.
[1] Höffe O: Die hohe Kunst des Alterns – kleine Philosophie des guten Lebens. C.H.Beck-Verlag Göttingen 2021 S. 68
[2] ebd. S. 96
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