Allein?! …und das nicht nur zur Weihnachtszeit!

Ca. 10.000 Selbsttötungen pro Jahr!

Das sind drei Mal mehr Menschen als bei Autounfällen ums Leben kommen. Bei mindestens neun von 10 Suiziden lag eine seelische Erkrankung vor. Die Hälfte war depressiv erkrankt. Dreimal mehr Männer nehmen sich das Leben gegenüber Frauen. Die Suizidrate nimmt mit zunehmendem Alter zu.

Starke Affekte wie Schuld- und Schamgefühle, Abgrund tiefer Hass, Wut und Ärger, aber auch Rachegedanken – sich dafür zu rächen, dass man verlassen wurde; dass einem großes Unrecht, Demütigung oder Erniedrigung geschehen sind, die einen zu vernichten drohen und gegen die man sich nicht schützen konnte bzw. kann; Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, z.B. bei existentiell bedrohlicher Insolvenz oder Arbeitslosigkeit; nach Verlust eines nahen Angehörigen – betrifft insbesondere ältere Menschen- Suizide in der Familie bzw. im näheren Beziehungsumfeld fördern die Tendenz, sich das Leben zu nehmen. In emotional aufgeladenen Zeiten wie Weihnachten mit großen unerfüllten Sehnsüchten erleben Menschen ihre Depression besonders stark, weil sie sie konfrontiert mit ihrem Alleinsein, ihrem sozialen Rückzug, ihrem mangelnden Antrieb. 

Kurze Fallbeschreibung:

Eine 72-jährige Patientin gerät schon seit vielen Jahren vor Weihnachten in eine tiefe Krise und musste schon wiederholt stationär psychiatrisch/psychotherapeutisch behandelt werden. Dass ihre Kinder sie zu Weihnachten nicht einladen und nicht besuchen überfordert die Dame. Das ganze Jahr über, wenn es helleres und schöneres Wetter ist, Blumen blühen und die Bäume belaubt sind, schafft sie es, ihrem Leben eine Orientierung zu geben. Ihre Sehnsucht, zu Weihnachten nicht alleine zu sein, Weihnachten wie in der Kindheit im Kreise der Familie feiern zu können, traditionell mit Weihnachtsgebäck und Christbaum und Adventskranz, mit einem leckeren Weihnachtsbraten bei guter Stimmung und auch Singen von altbekannten Weihnachtsliedern. Die Traurigkeit über das, was sie nicht hat, das, was sie sich sehnlichst wünscht, versetzt sie in große innere Unruhe. Der Verlust eines guten Freundes, die Scheu, sich Bekannten während des Weihnachtsfestes aufzudrängen, die Sehnsucht nach der Mutter, welche in großer Entfernung von ihr in einem Altenheim lebt, jedoch sich von ihr abgekehrt hat, kommen zusammen. Und das schon seit vielen Jahren.

Bei diesem Fallbeispiel ist zu berücksichtigen, dass die Patientin schon seit Jahrzehnten psychisch krank ist und auch in Behandlung. Ihr Leben ist von großer psychischer Labilität geprägt. Diese lässt sich zurückführen auf Fluchterfahrungen ihrer Mutter während der Schwangerschaft mit der Patientin. Die Mutter war allein mit drei Kindern und schwanger von Schlesien in den Westen geflohen, ohne zu wissen, ob ihr Mann, der Vater der Kinder, lebend aus dem Krieg zurückkehren würde. Lange Zeit hatte sie kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Der damit verbundene permanente Dauerstress und die seelische Not der Mutter haben sich auf das Kind übertragen. Mit ungeheurer Lebensenergie hatte die Patientin dennoch ihren Weg gefunden, war berufstätig geworden, hatte geheiratet und drei Kinder bekommen, bis sie dann durch die Trennung von ihrem Ehemann auf sich selbst gestellt emotional überfordert war.

Depressionen sind affektive Störungen

Viele Menschen erleben gerade zur Weihnachtszeit eine ähnliche tiefe Sehnsucht nach trautem Zusammensein im Kreise der Familie. Heute sind Familien oftmals räumlich weit auseinandergerissen. Hohe berufliche Beanspruchung, häufige soziale Entwurzlungen, Trennungen und Scheidungen und sonstige widrige Umstände erlauben es oft nicht, sich zu einer gemeinsamen Feier zu treffen. Wenn dann noch ein lieber Angehöriger verstorben ist, oder auch gerade eine Trennung vom Lebenspartner bzw. der Lebenspartnerin emotional zu überwinden sind, wenn ggf. Sorgen schwer auf den Schultern lasten, keine Freunde in der Nähe sind, denen man sich anvertrauen könnte, kann dies einen Menschen überfordern. Viele Menschen, die solches erleben, werden darüber nicht krank. Doch so mancher entwickelt Schlafstörungen, depressive Stimmungsschwankungen, ängstliche Zurückgezogenheit, Selbstwertverlust und verliert den Boden unter den Füßen. Die dunkle Jahreszeit trägt zudem mit dazu bei, sich Zuhause einzuschließen, nicht mehr vor die Tür zugehen und dadurch sich aus sozialen Kontakten immer mehr zurückzuziehen. Die emotionalen Ressourcen brauchen sich auf, der Akku leert sich, und die Menschen spüren eine große innere Unruhe und Leere. Schlimmstenfalls geht der Lebensmut verloren. Aus Scham sich nicht einem Arzt mitzuteilen erhöht die Suizidgefahr. Die positive Erfahrung, dass in früheren depressiven Krisen Hilfe möglich war, gibt Hoffnung. Und dennoch gefährdet jede erneute Krise den Menschen, den Mut zu verlieren und nur noch im Suizid den Ausweg zu erkennen.

Therapie fokussiert auf individuelle Zusammenhänge

Menschen, die sich innerlich derart in die Enge getrieben erleben, können oft nur mit psychotherapeutischer und u.U. psychopharmakotherapeutischer Hilfe einen Ausweg finden. Sie benötigen ein empathisches Gegenüber, dass professionell Hilfe gibt, um aus dieser Abwärtsspirale herauszufinden. In unserem Fallbeispiel ist die Patientin durch jahrzehntelange psychische Erkrankung in einem Grad der intrapsychischen Verletzlichkeit, dass sie zu ihrem Schutz der klinischen Behandlung bedarf. Für sie ist eine ambulante Behandlung auch unter Ansatz von Psychopharmaka nicht ausreichend. Ebenfalls erkennbar macht es, dass in der klinischen Behandlung komplexe lebensgeschichtliche Zusammenhänge zu erschließen eine hochindividuelle Therapie erfordert. Tägliche multimodale Psychotherapie – einzeln wie auch in der Gruppe – unter systemischer Reflektion unterschiedlicher Perspektiven, die sich aus Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie sowie den Kreativtherapien (Konzentrative Bewegungs-, Musik- und Kunsttherapie) ergeben, sollte daher Standard sein!

Dr. Wolfgang Hagemann

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Veröffentlicht am: 4. Februar 2018

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